VGH Bayern, 07.12.2021 - 10 BV 21.1821 (2024)

Überwiegend erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die Versagung einer Duldung

Auszug aus VGH Bayern, 07.12.2021 - 10 BV 21.1821

Eine (freiwillige) Ausreise des vollziehbar ausreisepflichtigen Klägers ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats jedoch entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht im Sinne von § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG aus rechtlichen (oder tatsächlichen) Gründen unmöglich (3.2.), weil es mit dem verfassungsrechtlichen Schutz der Familie nach Art. 6 GG (bzw. Art. 8 Abs. 1 EMRK) im konkreten Fall vereinbar ist, den Kläger selbst "angesichts der bestehenden einfachrechtlichen Ungewissheiten" (vgl. dazu BVerfG, B.v. 9.12.2021 - 2 BvR 1333/21 - juris Rn. 50) auf die Einholung des erforderlichen Visums zu verweisen (3.2.1.); eine fehlende Mitwirkung des Ausländers (Klägers) im Visumverfahren und dadurch bedingte längere Wartezeiten bei der deutschen Auslandsvertretung in Nigeria, die zwangsläufig auch eine längere Trennungszeit zwischen Vater und Kind bedeuten würden (zu dieser Problematik vgl. BVerfG, B.v. 9.12.2021 - 2 BvR 1333/21 - juris Rn. 56 ff.), ginge dabei angesichts des klaren und eindeutigen gesetzlichen Ausschlussgrunds gemäß § 25 Abs. 5 Satz 3 AufenthG zulasten des geduldeten Klägers (3.2.2.).

Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles (vgl. z.B. BVerfG, B.v. 5.6.2013 - 2 BvR 586/13 - juris Rn. 12; zuletzt B.v. 9.12.2021 - 2 BvR 1333/21 - juris Rn. 45 jew. m.w.N.).

Bei einer Vater-Kind-Beziehung kommt hinzu, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch Betreuungsleistungen der Mutter oder dritter Personen entbehrlich wird, sondern eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes haben kann (vgl. BVerfG, B.v. 5.6.2013 - 2 BvR 586/13 - juris Rn. 13; zuletzt B.v. 9.12.2021 - 2 BvR 1333/21 - juris Rn. 46 jew. m.w.N.).

Der mit der Durchführung des Visumverfahrens üblicherweise einhergehende Zeitablauf ist von demjenigen, der die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland begehrt, regelmäßig hinzunehmen (vgl. BVerfG, zuletzt B.v. 9.12.2021 - 2 BvR 1333/21 - juris Rn. 47 m.w.N.).

Ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht haben die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (vgl. BVerfG, zuletzt B.v. 9.12.2021 - 2 BvR 1333/21 - juris Rn. 48 m.w.N.).

Ausgehend von diesen Grundsätzen und ungeachtet der Frage, ob Art. 6 Abs. 1 und 2 GG im Fall des aufgrund seiner Vater-Kind-Beziehung vom Beklagten bisher gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG dauerhaft geduldeten Klägers überhaupt eine legale Aufenthaltsgewährung und damit die Erteilung einer (humanitären) Aufenthaltserlaubnis gebieten, ist es mit dem verfassungsrechtlichen Schutz der Familie nach Art. 6 GG (bzw. Art. 8 Abs. 1 EMRK) im konkreten Fall jedenfalls vereinbar, ihn selbst "angesichts der bestehenden einfachrechtlichen Ungewissheiten" (vgl. dazu BVerfG, B.v. 9.12.2021 - 2 BvR 1333/21 - juris Rn. 50) auf die Einholung des erforderlichen Visums zu verweisen.

Bei dieser Prognose sind nach neuester Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zudem "einfachrechtliche Unsicherheiten" (vor allem bezogen auf den hier allein in Betracht kommenden familiären Aufenthaltstitel gemäß § 36 Abs. 2 AufenthG) ebenso zu berücksichtigen wie eine eventuell fehlende Mitwirkung des Betroffenen im Visumverfahren (BVerfG, B.v. 9.12.2021 - 2 BvR 1333/21 - juris Rn. 52 ff.).

In die Prognose der Dauer der Trennung des Klägers von seinen Kindern ist schließlich auch keine durch eine mögliche Abschiebung ausgelöste Sperrfrist nach § 11 Abs. 1 AufenthG einzustellen (vgl. dazu BVerfG, B.v. 9.12.2021 - 2 BvR 1333/21 - juris Rn. 56).

Der Senat verkennt auch nicht, dass die Erteilung einer für den Kläger hier allein in Betracht kommenden familienbezogenen Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 AufenthG an hohe Hürden gebunden ist und die Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte voraussetzt, wofür die höchstrichterliche Rechtsprechung verlangt, dass der schutzbedürftige Familienangehörige ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe dringend angewiesen ist, und dass diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden kann (BVerfG, B.v. 9.12.2021 - 2 BvR 1333/21 - juris Rn. 53 unter Verweis auf entspr.

Die Schutzwirkungen dieses Grundrechts werden jedoch durch das jeweilige Gewicht der familiären Bindungen beeinflusst, wobei alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind (BVerfG, B.v. 9.12.2021 - 2 BvR 1333/21 - juris Rn. 53 f. m.w.N.).

Geht man mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. zuletzt B.v. 9.12.2021 - 2 BvR 1333/21 - juris) davon aus, dass aufgrund des verfassungsrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 und 2 GG) einer - wie zwischen dem Kläger und seinem in der Bundesrepublik Deutschland (infolge der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft) nach § 25 Abs. 2 1. Alt. AufenthG aufenthaltsberechtigten älteren Sohn unstreitig bestehenden - gelebten (intensiven) Vater-Kind-Beziehung gerade mit Blick auf das Kindeswohl sowie den persönlichen Kontakt des Kindes zu beiden Elternteilen und den damit verbundenen Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen ein hohes Gewicht zukommt, zumal es sich noch um ein kleines Kind handelt (BVerfG a.a.O. Rn. 48 m.w.N.), müssen diese Schutzwirkungen und deren hohes Gewicht von den zuständigen Behörden und Verwaltungsgerichten auch bei der Auslegung und Anwendung der Anspruchsgrundlage des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG berücksichtigt werden (vgl. BVerwG, U.v. 30.7.2013 - 1 C 15.12 - juris Rn. 14 ff.; BVerfG, B.v. 9.12.2021 - 2 BvR 1333/21 - juris Rn. 54).

Auch weitere "einfachrechtliche Unwägbarkeiten" wie die im Rahmen des § 36 Abs. 2 AufenthG erforderlichen allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufenthG oder das in § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG normierte Wohnraumerfordernis (vgl. dazu BVerfG, B.v. 9.12.2021 - 2 BvR 1333/21 - juris Rn. 55) vermindern die Wahrscheinlichkeit, dass dem Kläger tatsächlich ein Visum nach § 36 Abs. 2 AufenthG erteilt werden wird, nicht entscheidend.

Unabhängig davon handelt es sich hier um eine Regelerteilungsvoraussetzung, von der mit Blick auf den verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 und 2 GG) ohnehin dann abzusehen ist, wenn die Erteilung eines Visums nach § 36 Abs. 2 AufenthG geboten ist (vgl. BVerfG, B.v. 9.12.2021 - 2 BvR 1333/21 - juris Rn. 55).

Eine fehlende oder unzureichende Mitwirkung des Klägers im Visumverfahren und dadurch bedingte längere Wartezeiten bei der deutschen Auslandsvertretung in Nigeria, die zwangsläufig auch eine längere Trennungszeit zwischen Vater und Sohn bedeuten würden (zu dieser Problematik vgl. dazu BVerfG, B.v. 9.12.2021 - 2 BvR 1333/21 - juris Rn. 56 ff.) ginge jedenfalls angesichts des klaren und eindeutigen gesetzlichen Ausschlussgrunds gemäß § 25 Abs. 5 Satz 3 AufenthG zulasten des geduldeten Klägers.

Dass dem Verwaltungsgerichtshof unabhängig davon eine "gültige Prognose" über den Zeitraum der Trennung von seiner Familie im Fall fehlender oder unzureichender Mitwirkung des Klägers im Visumverfahren nicht möglich ist (insoweit unklar: BVerfG, B.v. 9.12.2021 - 2 BvR 1333/21 - juris Rn. 59 einerseits und 64 andererseits), liegt auf der Hand.

VGH Bayern, 07.12.2021 - 10 BV 21.1821 (2024)
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